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INSTITUTIONELLE GEWALT

WAS BEDEUTET FORTGESETZTE GEWALT GEGEN FRAUEN DURCH INSTITUTIONEN?

Als wir MIAs am 25. November 2020 zum ersten Mal die Aktion #whitelilyrev ins Leben riefen, prägten wir mit ihr den Begriff der institutionellen Gewalt gegen Mütter im Familienrecht, um das hier beschriebene Phänomen erstmals sprachlich fassbar zu machen.. Bis dahin gab es keinen Begriff für das, was Mütter und ihre Kinder seit Jahren in deutschen Gerichtssälen und Jugendämtern bundesweit erleben.

Mehr als jeder zweite Fall vor Familiengerichten hat einen Gewalthintergrund.

Oft wird er ignoriert.

Je nach Datenquelle liegt der Anteil zwischen 50 und 70 Prozent,
vgl. Barnett, Adrienne, Domestic abuse and private law children cases, Hg: Ministry of Justice (UK) 2020, S. 20, Tab 4.1

Mehr als jeder zweite Fall vor Familiengerichten in sog. Kindschaftssachen hat einen Gewalthintergrund. Gewalt ist stets durch das Bedürfnis des Täters nach Machtausübung und Kontrolle über das/die Opfer gekennzeichnet (vgl. dazu z.B. die Forschung der Kriminolgin Jane Monckton-Smith). Familiäre Gewalt, die für Familienrechtsverfahren relevant ist, kann grob in vier Gruppen geclustert werden:

  1. Gewaltformen bereits während der Beziehung/Ehe
  2. Gewaltverhalten ab dem Zeitpunkt der Trennung
  3. Keine bestehende Paarbeziehung zum Geburtszeitpunkt des Kindes (weil z.B. bereits rasch ein übergriffiges Verhalten des Täters offenbar wurde und daher keine feste Beziehung entstand, oder die Zeugung des Kindes unter Gewalt stattfand)
  4. Gewalt gegen das Kind (insb. sexuelle Gewalt)

Der hohe Anteil von Gewalt in Verfahren zum Umgangs-, Sorge-, Unterhalts- und Abstammungsrecht wird oft nicht oder deutlich zu wenig bei gerichtlichen Entscheidungen berücksichtigt. Zahlreiche Mütter und Kinder, die von Gewalt betroffen sind, erleben nach der elterlichen Trennung in Jugendämtern und vor Familiengerichten, dass sie trotz ihres Rechts auf Schutz vor Gewalt nicht vor fortgesetzter Gewalt (in teils neuem Gewand) geschützt werden. Ihre Traumatisierung und fortdauernde Gefährung werden nicht ernst genommen.

Stattdessen werden sie Tätern über das Umgangsrecht weiterhin ausgeliefert. Häufig müssen sie sich auf unbegleitete, teils großzügige Umgangsregelungen bis hin zum Wechselmodell einlassen. Die stete Retraumatisierung durch die erzwungenen regelmäßigen Kontakte mit dem Täter spielt keine Rolle. Durch Gewalt traumatisierte Frauen und Kinder können jedoch nur gesunden, wenn sie nicht regelmäßig erneut ihrem Peiniger ausgesetzt werden. Ohne Kontaktabbruch ist eine oft Jahre dauernde Gesundung kaum möglich.

INSTITUTIONELLE GEWALT

Wenn durch Gewalt traumatisierte Mütter oder Mütter von gewaltbetroffenen Kindern aus Schutzgründen darum kämpfen, keine ausgedehnten Umgangsregelungen umsetzen zu müssen, laufen sie sogar Gefahr, ihre Kinder an den Täter zu verlieren. Sie werden dann teils auf eine vermeintliche Pflicht zur Einigung mit dem Vater hingewiesen (die selbst der BGH als unmöglich ansieht).

Müttern, denen das aufgrund der Gewalterfahrung nicht möglich ist, widerfährt z.B. Victim Blaming (z.B. “Auswahlverschulden”) und Täter-Opfer-Umkehr: Plötzlich werden sie als Täterinnen dargestellt, die ihre Kinder gefährden würden: weil sie dem Vater das Recht auf Umgang nicht oder nicht in dem vom Vater gewünschten Umfang “zugestehen” – weil sie sich und/oder ihre Kinder vor dem Täter, neuen Übergriffen, dessen Zwangskontrolle (engl. coercive control) o.ä. schützen wollen. Mütter und Kinder erleben damit im Gerichtsverfahren eine sekundäre Viktiminsierung . Sie werden erneut Opfer – von institutioneller Gewalt.

Über das Umgangsrecht mit den Kindern erhalten Täter kontinuierlichen Zugriff auch auf die Mutter und zahlreiche Möglichkeiten, weiterhin Gewalt gegen sie auszuüben. Gewaltopfer sind dadurch völlig ungeschützt. Von der Möglichkeit, begleitete Umgänge und trägergestützte Übergaben der Kinder – auch dauerhaft – bis hin zum Umgangsausschluss zu nutzen, machen viel zu wenige Familiengerichte Gebrauch.

WIE KANN DAS SEIN?

An Familiengerichten wird bis heute das Umgangsrecht von Vätern mit ihren Kindern höher gewichtet als das Recht der Opfer auf Schutz vor weiterer Gewalt und Retraumatisierung. Seit Jahren kritisieren zahlreiche Wissenschaftler:innen, Praktiker:innen und Verbände die fehlende Synchronisierung von Gewaltschutz und Umgangsrecht. Die gesetzliche Prämisse (§ 1626 Absatz 3 BGB), nach der der Umgang mit beiden Elternteilen für Kinder “in der Regel” deren Wohl diene, ignoriert bisher in der Rechtspraxis, dass dies in Gewaltkontexten kontraindiziert ist.

FACHWISSEN ZU GEWALT-BEZIEHUNGEN FEHLT HÄUFIG

Hinzu kommt fehlendes Fachwissen der verfahrensbeteligten Professionen im Bereich familiärer Gewalt. Weder Richter:innen noch Jugendamtsmitarbeiter:innen oder Verfahrensbeistände haben bisher eine Pflicht, sich im Bereich familiärer Gewalt, ihrer Dynamiken, Abhängigkeiten, zur Psychotraumatologie sowie zu den Gefahren von Retraumatisierungen durch steten Kontaktzwang fortzubilden.

Familiäre und Partnerschaftsgewalt ist immer von einem Machgefälle zwischen Täter und Opfer gekennzeichnet.

Familiäre und Partnerschaftsgewalt ist immer von einem Machgefälle zwischen Täter und Opfer gekennzeichnet. Die bisherige Rechtspraxis aber geht regelmäßig von einem hypothetischen Gleichgewicht zwischen Eltern aus. Gewalt wird so zum “Elternkonflikt” verharmlost, die bestehende Asymmetrie samt der Traumatisierung und Angst der Opfer ignoriert und mit Sätzen wie „Zum Streit gehören zwei“ die Opfer ein weiteres Mal viktimisiert.

Kinder, die Gewalt miterleben, werden ebenfalls nachhaltig traumatisiert und haben nahezu immer mit langfristigen Folgen zu kämpfen. Diese Erkenntnis ist in der Wissenschaft sehr gut erforscht und unstrittig. Dennoch werden Kinder immer wieder auch gegen ihren eigenen Willen zu Umgängen mit dem Vater gezwungen oder sogar ganz zu ihm umplatziert. Eine mögliche emotionale Ambivalenz der Kinder gegenüber den Tätern – die sog. Traumabindung – wird von den Professionen vielerorts ignoriert bzw. nur einseitig im Sinne eines Umgangs mit dem Vater ausgelegt. Gleichzeitig werden ihre Mütter durch unbegleitete Umgänge regelmäßig dem Täter in den Übergabesituationen ausgeliefert.

AUCH WIEDERHOLTES KLAGEN KANN GEWALT SEIN

Über das gemeinsame Sorgerecht sowie Umgangsrecht erhalten Täter zahlreiche weitere Möglichkeiten, dem Opfer weiterhin zuzusetzen und Nachtrennungegewalt wie finanzielle Gewalt, Mißbrauch von Justiz und Institutionen oder Zwangskontrolle (Coercive Control) auszuüben. Dazu zählt auch das regelmäßige, erneute Klagen von Tätern vor dem Familiengericht. Großbritannien hat diese Form der Gewaltausübung inzwischen als Gewalt anerkannt, und gibt im 2021 verabschiedeten Domestic Abuse Bill Richter:innen die Möglichkeit, diese zu unterbinden und neue Klagen nicht mehr zuzulassen.

Das Recht der Frau auf Schutz vor jeder weiteren Gewalt wird an vielen deutschen Familiengerichten bis heute ignoriert. Das ist eine anhaltende Rechtsverletzung gegen Frauen, weil sie Frauen sind.